Am Anfang war die Interaktion

In unserer Artikelserie »Digitale Identität« spüren wir philosophischen, alltäglichen und technischen Aspekten von Identitäten im digitalen Raum nach.

Im ersten Teil der Artikelserie »Digitale Identität« sind wir noch recht analog geblieben. Wir haben uns der etymologischen Herleitung des Identitätsbegriffs gewidmet und den verschiedenen Bedeutungsdimensionen von Identität nachgespürt. Dabei ist vor allem klar geworden, dass Identität nicht von vornherein im Menschen verankert ist. Vielmehr produziert sie sich in einer wechselseitigen Beziehung von persönlichen und sozialen Aspekten, unterliegt ständigen Veränderungen und muss von anderen validiert werden.
Im zweiten Teil soll es nun um die Einflüsse des digitalen Wandels auf Menschen und ihre Identitäten gehen.

Digitaler Alltag

Heutzutage spielt sich ein beträchtlicher Teil des sozialen Handels in digitalen Räumen ab. Menschen informieren sich in Sozialen Medien über die neuesten weltpolitischen Entwicklungen, kommentieren diese, treten in nahezu instantanen Austausch darüber. In Online-Communities und Foren lassen sich Fragen zu den spezifischsten Themen stellen, die Personen vom anderen Ende der Welt beantworten. Oma leitet eine Kettennachricht auf WhatsApp weiter und mit den Mitbewohner*innen einigt man sich auf dem Rückweg von Uni oder Arbeit via Instant-Messaging auf ein Rezept, das man auf Instagram gesehen hat und schon immer mal ausprobieren wollte. Diese diversen Formen des Online-Diskurses umfassen dabei ein weites Spektrum des Möglichen und Sagbaren: vom sachlich-fundierten Diskurs über ungezwungenes Small-Talk-Chatting bis hin zu Shitstorms und konzertierten Hasskampagnen. Was diese formal sehr unterschiedlichen, online stattfindenden Diskursstränge aller Unterschiede zum Trotz eint, ist ihr grundlegendes Charakteristikum: Sie alle sind Formen des sozialen Handelns, des schriftlichen oder in Teilen auch verbalen Interdiskurses, und stellen damit per se Interaktionen mit soziokulturellen Kontexten dar.

Identitätsproduktion im Digitalen

Im Sinne einer anthropologischen Bestimmung von Identität, wie bei Erikson, Habermas, Hasters und Co., stellen solche Interaktionen mit soziokulturellen Kontexten den sozialen Teil der Identitätskonstruktion dar, der vom persönlichen, dem Bewusstsein meiner Selbst, flankiert wird. In ihrer Wechselwirkung, in der Erkenntnis des Selbst bei gleichzeitiger Bestätigung dieser Erzählung durch andere entsteht dann Identität. Und weil sich der soziale Teil, die Interaktionen, immer mehr auch in digitale Öffentlichkeiten verlagern, produzieren sich folglich auch Identitäten zusehends im Digitalen.

Morgens netter Kollege, abends rechter Troll

Identitätsstiftende Gruppenzugehörigkeitsgefühle formieren sich dabei vor allem in Sozialen Netzwerken, in Foren, Kommentarspalten etc. Mit den Mitgliedern des Stammforums fühlt sich manch einer wohler als mit der eigenen Familie, der allabendliche Gaming-Stream des Lieblings-YouTubers wird zur Wohlfühl-Routine und die Kommentierung nachrichtlicher Ereignisse der Polit-Influencerin des Vertrauens spricht einem so sehr aus der Seele, wie es keine Tagesschau-Korrespondentin oder der Gast einer TV-Talkshow je vermag. Das kann durchaus positive Effekte haben. Digitale Peergroups folgen Spendenaufrufen, etwa von Online-Aktivist*innen, amplifizieren die Aufrufe durch das Teilen mit weiteren Peers und retten somit unabhängige Projektinitiativen, solidarische Beratungsstellen für Geflüchtete oder nischige Print-Magazine vor dem finanziellen Aus. Influencer*innen-Livestreams generieren regelmäßig fünf- bis sechsstellige Summen, teils durch Aufrufe einzelner Personen im nebenherlaufenden Chat. Häufig gehen diese Online-Aktivitäten der mehr oder weniger losen Mitglieder von Bezugsgruppen dabei einher mit deren Identität im physischen Raum – vielmehr noch: Digital- und Realräume fließend nahtlos ineinander über. Identifiziere ich mich in der physischen Welt als queer, Schwarz, migrantisch oder anderweitig marginalisiert, bin ich es auch online – dementsprechend setzen sich viele auch dort für die Sichtbarmachung und Anerkennung marginalisierter und diskriminierter Gruppen ein.

Andersherum ausgedrückt bedeutet das aber auch: Diskriminierungen, Rassifizierungen, Frauen- und Queerfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamophobie… – all diese Bedrohungen des seelischen und physischen Wohls von Betroffenen schreiben sich online fort. Schlimmer noch: Täter*innen geben sich online wesentlich enthemmter, stacheln sich gegenseitig an. Denn, so leider die Schattenseite der Digitalität: Online-Räume können Orte der Auslebung identitätsbezogener Neigungen sein, die in der physischen Realwelt gesellschaftlich stigmatisiert sind und mit denen sich eine natürliche Person in der allgemeinen Öffentlichkeit nicht identifizieren möchte oder schlichtweg nicht kann, weil diese Neigung strafbar oder gesellschaftlich geächtet ist. In digitalen Teilöffentlichkeiten sind strafbare Aussagen oder Handlungen zwar nicht weniger strafbar, deren Verfolgung wird aber schwer oder unmöglich  – und somit auch die Hemmschwelle des Sagbaren. Insbesondere gruppenbezogener Hass und Hetze, offener Rassismus und rechtsextremistische oder antisemitisch-verschwörungsideologische Polemik haben online Konjunktur. Und auch auf Seiten der Online-Plattformen selbst, der Möglichmacher digitaler Diskursräume, geht der Trend hin zu weniger Moderation von hasserfüllten Inhalten. Und so kann der im physischen Realraum höfliche Arbeitskollege seine rechte Gesinnung im Netz vollends ausleben – getrieben und gestützt von einer unüberschaubaren Menge rechter Trolls.

Gehört mir meine Digitale Identität?

Eigentlich, so sollte man meinen, verfügen Individuen über die Deutungshoheit ihrer eigenen Identitäten. Im Digitalen, insbesondere im Internet, ist das aber tatsächlich nicht immer der Fall. Denn Digitale Identitäten werden mitunter auch ohne das explizite Wissen der Betroffenen generiert. Mit der Akkumulation von Daten durch Suchanfragen, Seitenbesuche, Interaktionsraten etc. erstellen Online-Dienstleister detaillierte Nutzer*innenprofile, die die persönlichen Vorlieben, Interessen und Kaufverhalten der Nutzenden mitunter besser widerspiegeln, als diese ihre eigene Persönlichkeit beschreiben können. Diese datengestützten und kommodifizierten, also zur Ware gemachten, Digitalen Identitäten verschmelzen dabei Aspekte der persönlichen und sozialen Identität, denn sie zeichnen sowohl individuelle als auch interaktionale Online-Aktivitäten von Personen auf. Die gespeicherten Datenpakete sind also letztlich Spiegelbilder abertausender Handlungen von Individuen im Netz – jedoch immer nur aus der Sicht des jeweiligen Online-Anbieters. Von umfassender Identität kann hier – entgegen dem üblichen Sprachgebrauch – eigentlich nicht die Rede sein: Die aufgezeichneten Handlungen erfassen immer nur die Bruchstücke der jeweiligen Persönlichkeiten, die durch deren Handeln im jeweiligen Dienst entstehen. So ist der Familienvater, der über mehrere Tage hinweg diverse Plattformen nach Kochrezepten durchsucht, nicht gleich zwingend ein passionierter Hobbykoch, sondern vielleicht nur mit der Vorbereitung des Elternbesuchs am nächsten Wochenende überfordert. Weil die Aufzeichnung dieser Daten dabei aber weitestgehend unsichtbar bleibt, wird ein Bewusstsein über die im Hintergrund produzierten Identitätsfragmente für die handelnden Individuen verunmöglicht. 

Und so weichen diese datengestützten Formen Digitaler Identitäten erheblich von den gängigen psychoanalytisch-philosophischen Definitionen der Identität ab. Denn im klassischen Sinne impliziert Identität nahezu immer Selbsterkenntnis oder ‑­reflexivität. Sicher, prinzipiell ist es eine Einsicht in die gesammelten Nutzendendaten durch die Datenschutz-Grundverordnung gesetzlich vorgeschrieben, zumindest im EU-Raum. Doch der schiere Aufwand einer Abfrage bei jedem einzelnen Online-Dienstleister und die für Laien meist kryptischen Auflistungen von Verarbeitungszwecken, beteiligten Werbetreibenden und Kategorien personenbezogener Daten führen dazu, dass das eigene Persönlichkeitsprofil meist nicht lesbar, vielmehr opak bleibt. Und so tummeln sich vermutlich abertausende solcher Datenpakete, letztlich Digitale (Teil-)Identitäten von Personen, im Netz, über deren Konstruktion andere verfügen. Diese Formen Digitaler Identitäten sind also alles andere als von autonomen Subjekten produzierte – im Gegenteil: Sie sind heteronom, fremdbestimmt.

Im nächsten Teil der Artikelserie geht es um Digitale Identitäten als Instrument der Authentisierung im Netz – vom Standardpasswort, über Single-Sign-Ons bis hin zu Passkeys.

(rah)

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