Mobiles Monitoringsystem erleichtert die Therapie epileptischer Erkrankungen
Patient*innen, die an Epilepsie leiden, müssen jederzeit mit einem Anfall rechnen. Um sie möglichst gut zu versorgen, ist eine individuell auf das Erscheinungsbild der Störungen abgestimmte Therapie grundlegend. Noch ist aber oft nicht ersichtlich, wie und wodurch ein Anfall ausgelöst wird. Das Einleiten spezifischer therapeutischer Maßnahmen ist deshalb meist kompliziert. Neue und mobile Diagnosetechniken könnten diesen Prozess deutlich vereinfachen. Sie haben das Potenzial, epileptische Anfälle auch im Alltag zu erkennen und zu analysieren.
Es ist schnell und leicht angelegt und bietet einen vergleichbaren Tragekomfort wie ein Hörgerät: Das mobile Sensorsystem, das Forscher*innen im Projekt »EPItect« entwickelt haben, kann Betroffenen das Leben mit einer Epilepsieerkrankung erheblich erleichtern. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt, an dem neben Medizintechnikunternehmen und klinischen Einrichtungen auch ein Team vom Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik ISST beteiligt war, ist bereits abgeschlossen und hatte zum Ziel, in einem Proof-of-Concept zu zeigen, dass mithilfe spezieller In-Ohr-Sensorik mögliche epileptische Anfälle frühzeitig und automatisch erkannt werden können. Die Sensoreinheit im Ohr misst Vitalwerte wie Herzfrequenz, Körperkerntemperatur und Sauerstoffsättigung des Blutes. Zusätzlich erkennen Neigungs- und Beschleunigungssensoren auffällige Kopfbewegungen, wie sie in der Regel durch Muskelzucken oder Kaubewegungen verursacht werden. Über eine mit der Sensor-Einheit vernetzte Smartphone-App kann der oder die Träger*in dann rechtzeitig gewarnt und der Verlauf der Anfälle dokumentiert werden. Die Tests der Forscher*innen zeigten allerdings auch, dass dem Erfolg dieser Methode Grenzen gesetzt sind: Denn durch eine Analyse der Vital- und Bewegungsdaten lassen sich zwar viele Anfälle erfassen, je nach Anfallsart und individueller Ausprägung ist es aber oft schwierig, das Auftreten eines Anfalls zuverlässig genug zu bestimmen, um Fehlalarme durch das Warnsystem weitgehend zu vermeiden. Grund dafür ist eine Eigenart epileptischer Anfälle, die Forscher*innen und Mediziner*innen schon lange beschäftigt: Es gibt sehr viele und sehr unterschiedliche Anfallstypen. Erschwerend kommt hinzu, dass ihr Ausbruch, ihr Verlauf und ihre Auswirkungen von Mensch zu Mensch individuell variieren. Deshalb gibt es beispielsweise auch Anfälle, die anhand der vom EPItect-System erfassten Daten nicht oder zumindest nicht zweifelsfrei erkannt werden. »Diese Lücken in der Detektion wollen wir nun durch eine Weiterentwicklung des Systems schließen«, sagt Jasmin Henze vom Fraunhofer ISST. Ziel sei es, möglichst alle von dieser Gehirnerkrankung betroffenen Patient*innen vor gefährlichen Situationen zu bewahren und behandelnde Ärzt*innen bei Diagnose und Therapie zu unterstützen. Das Forschungsprojekt »MOND« (Mobiles, smartes Neurosensorsystem für die Detektion und Dokumentation epileptischer Anfälle im Alltag) baue deshalb unmittelbar auf den Ergebnissen und Entwicklungen von EPItect auf. An diesem, vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderten Projekt, beteiligen sich außer dem Fraunhofer ISST und dem Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie IDMT als weitere Forschungspartner*innen die Cosinuss GmbH und die HörTech gGmbH, die Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und das Institut für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften der Universität Bayreuth sowie die Klinik und Poliklinik für Epileptologie des Universitätsklinikums Bonn und das Universitätsklinikum der Philipps-Universität Marburg.
Mobiles Messen der Gehirnaktivität
Die entscheidende Neuerung, an der die Expert*innen arbeiten, ist ein neuartiges Monitorsystem, in das nun zusätzlich ein mobiles Elektro-Enzephalogramm (EEG) integriert wird. Mithilfe eines EEGs werden Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche gemessen. Diese wiederum lassen Rückschlüsse auf Aktivitäten und damit auch auf Störungen der Gehirnfunktionen zu. »Bei aller Variabilität der Auswirkungen epileptischer Anfälle auf Körperregionen und Körperfunktionen: Entscheidend ist immer die Gehirnaktivität«, betont Henze. Für die Mediziner*innen ist das EEG daher mit das wichtigste Diagnoseinstrument, um die individuelle Ausprägung einer Epilepsieerkrankung zu bestimmen und auftretende Anfälle zu klassifizieren.
Bei Untersuchungen in Praxen und Kliniken haben die Neuromediziner*innen allerdings deutlich mehr Platz und technische Möglichkeiten. Denn für ein klassisches EEG kann die gesamte Schädeldecke der Epilepsie-Patient*innen für die Elektroden genutzt werden. Die ermittelten Werte der Gehirnaktivitäten zeigen dann, in welchem Teil des Gehirns ein konkreter Anfall entsteht und wie sich die Hirnfunktionen während seines Verlaufes verhalten. So entsteht ein individuelles Krankheitsbild und die Chance, eine individuell angepasste Therapie zu beginnen. Je nach Ursache und Ausprägung der Erkrankung lassen sich dann – etwa durch bestimmte Medikamente oder operative Eingriffe – die epileptischen Anfälle bei vielen Patient*innen weitgehend verringern oder sogar über eine längere Zeit vollständig unterbinden.
Mit diesem stationären EEG lassen sich allerdings nur die Anfälle detektieren und analysieren, die während der Untersuchung in Praxis oder Klinik auftreten. Mit der Integration eines mobilen EEG in das Monitoringsystem wollen die Forscher*innen aber auch die epileptischen Anfälle im Alltag der Patient*innen erfassen.
»Mobil ist ein vollumfängliches EEG wie auf einer Station allerdings nicht möglich. Wir müssen es deshalb erreichen, trotz möglichst wenigen und komfortabel zu tragenden Elektroden aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen«, sagt Henze. Im Rahmen des Projekts erproben die Forscher*innen dazu zwei unterschiedliche Lösungen: Einmal sind die EEG-Elektroden in die In-Ohr-Einheit des EPItect-Systems integriert. Beim zweiten Ansatz sind mehrere Elektroden in einen Ring integriert, der um das Außenohr gelegt wird. »Welche der beiden Methoden die beste Kombination aus Tragekomfort und Messgenauigkeit liefern kann, wird sich erst während der Testanwendungen des Systems in den kommenden Monaten erweisen«, sagt Henze. Zudem arbeitet der Algorithmus zur automatisierten Anfallserkennung größtenteils noch mit Trainingsdaten, die während der Klinikaufenthalte der Proband*innen erhoben wurden. Um das MOND-System »alltagstauglich« zu machen, müssen auch Daten genutzt werden, die ambulant erst noch gewonnen werden müssen.
Epilepsiebetroffene bestmöglich unterstützen
Im MOND-Projekt arbeiten die Forscher*innen aber nicht nur an einem mobilen EEG und an der Weiterentwicklung der Sensor- und Analysetechnik. Auch die App, über die die Nutzer*innen mit dem System interagieren, erhält ergänzende Funktionen. Eines der neuen Features ist der animierte Avatar »Luna«, der unter anderem die Verwendung des Systems im Alltag erleichtern soll. Luna erklärt dann beispielsweise, was die Ergebnisse der Messungen bedeuten. Er erinnert aber auch an die Einnahme von Medikamenten. Oder er hilft den Patient*innen, ihre Erlebnisse und Empfindungen während eines Anfalls im Epilepsietagebuch der App zu dokumentieren. In ersten Feldversuchen eruieren die Fachleute nun, welche Unterstützung durch das System den Betroffenen im Alltag am meisten Hilfestellung bietet und welches Design am ehesten dazu motiviert, das System regelmäßig zu nutzen.
Funktionstests
Wichtig für die Forschungen im Rahmen des MOND-Projekts ist auch, wie sich die Anwendung künftig in das Versorgungssystem einzelner Patient*innen integrieren lässt. Welche Schnittstellen beispielsweise müssen zum sicheren Datenaustausch zwischen dem Monitoringsystem und den IT-Landschaften von Praxen und Kliniken vorhanden sein? Wie werden Daten an die Elektronische Patientenakte (EPA) übergeben? Und wie lässt sich das System so in den Markt einführen, dass es möglichst vielen Betroffenen zugutekommt? Ist eine Zertifizierung als »Digitale Gesundheitsanwendung« (DiGA) sinnvoll, weil dann alle Krankenversicherten Anspruch auf diese Monitoringlösung hätten? Aber wie lässt sich eine zu starke Belastung der Krankenkassen dabei möglichst vermeiden?
»Bis zum Projektabschluss wird noch kein einsatzfertiges Unterstützungssystem für die Patient*innen entstanden sein. Aber wir wollen bis dahin ein umfassendes Set an Entwicklungen und Analysen zusammentragen, um die Einführung der mobilen Epilepsie-Unterstützung deutlich voranzubringen«, resümiert Henze.
(ted)
Expert*in
Jasmin Henze
Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik ISST