Mehr Ergonomie – aber wie?

Übermäßige Belastungen des Muskel-Skelett-Systems gehören zu den Hauptverursachern für krankheitsbedingte Ausfälle in der Produktion. Eine durchdachte Ergonomie von Arbeitsplätzen und Prozessen wird damit zu einem wettbewerbsentscheidenden Faktor. Zumal der demografische Wandel die körpergerechte Gestaltung der Arbeitsplätze immer bedeutsamer macht. Ergonomie-Prüfungen von Produktionsanlagen schon während ihrer Planungsphase werden deshalb immer wichtiger. Sie finden aber kaum statt. Dabei könnte eine VR-Analyse die ergonomischen Bedingungen bereits frühzeitig erfassen. Das Projekt ErgoVR ist Vorreiter dieses Konzepts.

»Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ihren Arzt oder Apotheker – vielleicht aber besser auch die Planer ihres Arbeitsplatzes.« Ungewöhnliche Ratschläge wie diese haben ihre Berechtigung. Denn die Art und Weise, wie die Arbeitsabläufe der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der industriellen Fertigung geplant werden, hat einen wesentlichen Einfluss auf Haltung und körperliche Belastung der Arbeiter. Und damit auch auf mögliche gesundheitliche Folgeerscheinungen. Denn selbst vermeintlich simple Tätigkeiten wie das Nehmen oder Heben eines leichten Gegenstandes aus einem Regal können – tagsüber womöglich dutzend- oder gar hundertfach ausgeführt – den Körper deutlich belasten. Zumal neben der Ergonomie auch die Praktikabilität bei der Gestaltung von hoher Bedeutung ist. Eine gute Planung muss berücksichtigen, dass alles Wichtige mit wenigen Handgriffen oder Gehschritten erreichbar ist.

Umso verwunderlicher ist es, dass Ergonomie- und Usability-Analysen neuer Produktionsanlagen nur sehr selten bereits während ihrer Planung stattfinden. Und wenn, dann meist nur in Form von Skizzen, einfachen Grafiken oder gängigen Diagrammen, die sich hauptsächlich Produktivitätsaspekten und weniger ergonomischen Kriterien widmen. Ob die dabei entwickelten Annahmen zu Bewegungsabläufen an jedem der Arbeitsplätze und zur Erreich- und Handhabbarkeit von Maschinen tatsächlich auch einem Praxistest standhalten, stellt sich meist erst viel zu spät heraus. Nämlich dann, wenn der geplante Ablauf von Tätigkeiten am Arbeitsplatz entgegen der Erwartungen ineffizient ist oder zu gesundheitlichen Problemen führt.

Ergonomie künftiger Arbeitsplätze

»Mitarbeitende haben bislang nur wenige Möglichkeiten, bisherige Erfahrung aus der praktischen Arbeit und zur ergonomische Qualität von bestehenden Abläufen früh in den Entwicklungsprozess eines neuen Arbeitsplatzes einzubringen«, betont Dr. Insa Wolf, Gruppenleiterin Mobile Neurotechnologien am Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie IDMT in Oldenburg. Im Projekt ErgoVR, das vom Softwareunternehmen Salt and Pepper Software GmbH & Co. KG koordiniert wird und an dem auch die Universität Osnabrück beteiligt ist, arbeitet das Fraunhofer IDMT deshalb mit an der Erforschung der Planungsverbesserung durch die Möglichkeiten von Virtual Reality (VR). »Unser Ziel ist es, virtuelle ergonomische Evaluationen durchführen zu können noch bevor neue Produktionsanlagen tatsächlich gebaut werden – und das in möglichst hoher Detailschärfe«, betont Wolf. Der Vorteil von Simulationen in einer Virtual Reality-Produktionsanlage ist offensichtlich: Mit vergleichsweise wenig Aufwand können verschiedene Ausgestaltungen von Arbeitsplätzen »praktisch« erprobt und verglichen werden. Beispielsweise für einen Arbeiter in einem Verpackungslager, der kontinuierlich Hand-über-Kopf etwas aus Regalen holt. Oder der sich bücken muss, um nach unten zu greifen, bevor er alles in einen Karton verpackt und ihn verschließt. Noch bevor der Arbeiter später also die gewünschten Handgriffe tatsächlich erledigt und seine Wege geht, sind die jeweils optimalen Arbeitsplatz-Designs bekannt. Die Häufigkeit von Fehlbedienungen und Unfällen kann also deutlich verringert werden.

Probleme noch während der Planungsphase erkennen

»Das Besondere unseres Projekts liegt darin, dass Arbeitsplätze nicht erst in der Realität existieren müssen, bevor dort ergonomische Tests durchgeführt werden können. Der Arbeitsplatz wird digitalisiert und dann in einer virtuellen Umgebung getestet. Anhand der Bewegungsdaten, die wir virtuell generieren, lässt sich ein Score ableiten, über den die Schwere der körperlichen Belastung definiert wird. Jeder Planende weiß sofort, ob die Tätigkeiten an einem bestimmten Arbeitsplatz, beispielsweise in der Logistik, gelenkschonend sind, eine bestimmte Gelenkpartie zu stark beanspruchen oder ob ein Gelenk gar überbelastet wird«, erklärt Jan Vox von der Gruppe Mobile Neurotechnologien am Fraunhofer IDMT.

Das System funktioniert ähnlich wie das Motion Capturing, bei dem in der Filmindustrie ein spezieller Anzug mit Bezugspunkten genutzt wird, um Bewegungen zu erfassen. Später kann ein Computer anhand der gewonnenen Daten ein sich bewegendes Drahtgittermodell als Körperskelett berechnen, um nachfolgend Gelenkwinkel abzuleiten. »Dieses Verfahren ist allerdings sehr aufwendig, nicht zuletzt, weil auf dem Bodysuit eine Vielzahl von Tracking-Punkten beziehungsweise Sensoren angebracht sind, über die beispielsweise das Bücken, Greifen, Sichten, Recken oder andere Bewegungen erfasst werden können«, erklärt Wolf. Für eine industrielle Anwendung sei der damit verbundene Zeit-, Geld- und Rechnereinsatz unwirtschaftlich. Eine der Hauptaufgaben des Fraunhofer IDMT im Projekt sei es deshalb, alternative Sensorsysteme mit geringerer Sensoren-Anzahl hinsichtlich der erreichbaren Qualität der errechneten Ergebnisse zu beurteilen. Im Moment werden Konfigurationen mit der Erfassung an nur noch jeweils einem Punkt an Handgelenk, Kopf, Oberarmen, Hüfte, Beinen/Füßen und Rücken untersucht. »Ziel ist es, dadurch eine Minimalkonfiguration für ein schnelles, ergonomisches Screening zu finden«, so Wolf.

Scoring nach Augenmaß

Zudem müssen die Experten ein weiteres, zentrales Problem lösen. Bisherige »Scoring-Systeme«, die eine ungesunde von einer normalen Einzelbewegung unterscheiden, funktionieren letztlich immer noch nach dem Prinzip von Anschauung und Erfahrung: Diese Bewegung beeinträchtigt dem Augenschein nach stark, diese weniger, diese kaum. Aus diesen eher subjektiven Einzelbewertungen leitet sich ein Gesamtscore für einen Bewegungsablauf ab. Nun aber stellt das VR-System exakte Daten zur Verfügung, die konkret kategorisiert werden müssen: Ist ein Abwinkeln des Ellenbogens von 83 Grad beim Herausnehmen schon als »ergonomisch ungesund« zu bewerten und wenn ja: Wie ungesund ist diese einzelne Haltung genau? Und wie ist diese einzelne, sehr spezifische Information im Kontext des gesamten Bewegungsablaufs zu beurteilen? »Die Überführung der Körperwinkel in ein Bewertungsschema wie RULA gehört zu den wichtigsten Aufgaben unseres Teams«, so Wolf. RULA steht für »Rapid Upper Limb Assessment«. Dieses Scoring-Verfahren wird bis heute regelmäßig eingesetzt, um die Ergonomie eines Arbeitsplatzes zu beurteilen. Genutzt werden dafür vier Kategorien von »akzeptabel«, über »in naher Zukunft -« beziehungsweise »in Kürze weitere Maßnahmen einleiten« bis zu »sofortiges Einleiten von Maßnahmen notwendig«.

Das Projekt ErgoVR ist Teil der Entwicklung einer »Embodied Engineering Suite« des Projektkoordinators Salt and Pepper Software GmbH & Co. KG. Wesentlicher Bestandteil dieser Suite ist eine Software zur umfassenden Umsetzung von Virtual Reality zur Planung von Produktionsarbeitsplätzen. Aktuell sind die Forschungen schon so weit fortgeschritten, dass erste Nutzerstudien im industriellen Umfeld durchgeführt werden können. Zudem werden Workshops angeboten, um sowohl die Anwendung als auch die Usability zu verfeinern.

(mad)


Dr. Insa Wolf

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