Die Grafik zeigt eine Stadt der Zukunft, Hochhäuser haben begrünte Dächer mit Gewächshäusern drauf.

Stadtquartiere: Die Lebensmittelproduzenten von morgen?

Frische Paprika vom Dach des Nebengebäudes statt als Importware aus Spanien? Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO hat die Potenziale urbaner Anbausysteme für die Produktion von Lebensmitteln auf Quartiersebene analysiert und gelangt zu dem Ergebnis: Die Zukunft der Lebensmittelproduktion ist urban – sie könnte in unserer direkten Nachbarschaft stattfinden.

Hallo Herr Braun und Herr Schubert.
Welche Motivation steht hinter der Erforschung urbaner Anbausysteme auf Quartiersebene? Worin besteht die Notwendigkeit der Reintegration einer urbanen Lebensmittelversorgung?

Braun: Bis zur Industrialisierung haben sich viele Städte überwiegend lokal oder regional versorgt, warum können wir das im 21. Jahrhundert nicht wieder ermöglichen und dafür technische Fortschritte nutzen? Gegenwärtig sind verschiedene, eng miteinander verknüpfte Entwicklungen und Missstände zu beobachten, die für eine Reintegration der Lebensmittelproduktion in den urbanen Raum sprechen. Dazu gehören die fortschreitende Urbanisierung und die zunehmende Fragilität globaler Lieferketten durch die Verschärfung internationaler Konflikte. Ebenso die Intensivierungspraktiken der konventionellen Landwirtschaft, die zu Schäden wie Biodiversitätsverlust und Bodendegradation führen, sowie die abnehmende Verfügbarkeit begrenzter, für die Lebensmittelproduktion essenzieller Ressourcen wie Wasser und Phosphor. Die drei aus unserer Sicht wichtigsten Treiber sind jedoch andere. Erstens der Klimawandel, der sich vor allem durch den Verlust landwirtschaftlicher Nutzflächen nachteilig auf die Lebensmittelproduktion auswirkt und dessen negative Folgen bestmöglich abgemildert werden müssen. Urbane Produktions- und Distributionssysteme bieten in diesem Zusammenhang große Potenziale, zum Beispiel zur Wiederaufforstung und zur Einsparung von transportbedingten Emissionen. Derartige Überlegungen werden in den meisten Klimastrategien und -zielen aus unserer Sicht noch zu wenig berücksichtigt. Der zweite wesentliche Treiber ist der digitale Strukturwandel, der im urbanen Raum zu einem sinkenden Bedarf an Büro- und Gewerbeflächen führt, die dadurch für neue Nutzungen frei werden. Drittens werden die für effiziente urbane Produktionssysteme erforderlichen Technologien wie künstliche Intelligenz, LED und Umweltsensoren immer leistungsfähiger.

Zu welchen Ergebnissen gelangten Sie durch die Potenzialanalyse?

Schubert: Die Analyse hat gezeigt, dass für die betrachteten Quartiere große bis sehr große Potenziale hinsichtlich produzierbarer Lebensmittel, generierbarer Arbeitsplätze sowie der Einsparung von Ackerland bestehen. Und dies, ohne die bisherigen Nutzungskonzepte signifikant einschränken zu müssen, sondern durch eine Umnutzung bereits jetzt oder in Zukunft freiwerdender Quartiersflächen.

Braun: Wir schließen daraus, dass neu entstehende oder in Konversion befindliche Stadtquartiere in hohem Maße zu einer vermehrt urbanen Lebensmittelproduktion beitragen können, der den Umgang mit dem Klimawandel erleichtert und der Ernährungssicherheit zugutekommt.

Sehen Sie das Potenzial, dass solche hyperlokalen Versorgungssysteme großflächig skalierbar sind, oder sind sie eher als Nischenlösungen für spezifische urbane Gebiete gedacht? Welche Faktoren würden die Skalierbarkeit beeinflussen? Lassen sich die Erkenntnisse der Studie auch auf Millionenstädte, wie zum Beispiel Berlin, übertragen?

Braun: Sie sind aufgrund ihres dezentralen Charakters und der vielfältigen Modularisierungs- und Automatisierungsmöglichkeiten in hohem Maße auf unterschiedlichste urbane Räume skalierbar. Zukünftige Kostenabnahmen bei den Produktionssystemen und der für ihren Betrieb benötigten Energie durch technologische Fortschritte werden die Skalierbarkeit weiter fördern. Die Erkenntnisse der Studie können in einem zellulären Ansatz gedacht werden, in dem Quartiere einzelne Zellen innerhalb beliebig großer Städte darstellen, und sind somit gut auf Millionenstädte wie Berlin übertragbar. Um eine schnelle stadtweite Skalierung über mehrere Zellen hinweg zu unterstützen, sind einheitliche Vertriebs- und Betreibermodelle sinnvoll.

Sie beschreiben, dass zusammengenommen ein Potenzial von fast 23.000 Tonnen Gemüse pro Jahr bis zum Jahr 2050 besteht. Welche Strategie müssen Quartiere implementieren, damit dieses Zielszenario Realität werden könnte? Welche Herausforderungen bestehen dabei? Ist so ein Modell wirtschaftlich tragfähig?

Schubert: Die Wirtschaftlichkeit wird derzeit noch durch im Verhältnis zum Ertrag hohe Betriebskosten der Produktionssysteme begrenzt. Hier erwarten wir aber zukünftig eine deutliche Verbesserung durch steigende CO2-Preise und Kostensenkungen in Verbindung mit technologischem Fortschritt. Quartiere sollten daher strategisch solche Nutzungsoptionen vorrüsten, zum Beispiel in Bezug auf Gebäudetechnik, Zugänge und Erschließungen, um mit wachsender Wirtschaftlichkeit schrittweise geeignete Flächen für die urbane Lebensmittelproduktion aktivieren zu können. Hierfür ist ein fundiertes Verständnis der unterschiedlichen Anforderungen seitens der Projektentwickler elementar.

Braun: Eine Herausforderung sehen wir darin, dass viele der bestehenden Gesetze und Fördermechanismen immer noch die klassischen Wege der Lebensmittelproduktion bevorzugen. Um das volle Potenzial der urbanen Lebensmittelproduktion zu entfalten, ist an dieser Stelle ein Umdenken der Politik notwendig. Des Weiteren kann der Mangel an Wohnraum in bestimmten Fällen mit der Aktivierung von Innenräumen für urbane Produktionssysteme konkurrieren.

Wie könnten sich die Energie- und Wasserverbräuche der urbanen Anbausysteme auf die Nachhaltigkeitsziele der Städte auswirken?

Braun: Im Idealfall wird die benötigte Energie durch erneuerbare Energien aus dem Umland bezogen, wo wiederum in großem Umfang landwirtschaftliche Flächen entlastet oder für mehr Biodiversität und Klimaanpassung umgenutzt werden können. Der Gesamtwasserverbrauch sollte nicht steigen, da urbane Produktionssysteme wie Aquaponik und Hydroponik deutlich weniger Wasser verbrauchen als die konventionelle Landwirtschaft. Darüber hinaus ist positiv zu berücksichtigen, dass die Transportwege für die Versorgung der Städte, die derzeit erhebliche Emissionen verursachen, verkürzt werden. In welchem Umfang dieses Idealszenario verwirklicht werden kann, hängt davon ab, welche Effizienz bei der Erzeugung erneuerbarer Energien in Zukunft erreicht wird.

Welche Synergien sehen Sie zwischen diesen Anbausystemen und bestehenden städtischen Infrastrukturen, zum Beispiel im Bereich Energie, Abfallmanagement oder Logistik?

Schubert: Im Rahmen geschlossener Kreisläufe können zahlreiche Synergien zwischen den Produktionssystemen und anderen städtischen Infrastrukturen realisiert werden. Beispielsweise können die Produktionssysteme Energieüberschüsse aus erneuerbaren Energiequellen nutzen, was der Netzdienlichkeit zugutekommt. Oder ihnen werden geeignete Lebensmittelabfälle als Nährstoffe und Futter für Pflanzen und Fische zugeführt. Eine vorausschauende, strategische Planung auf Quartiersebene ist ein wertvolles Instrument, um diese Synergien richtig zu nutzen.

Inwiefern kann die lokale Produktion in Quartieren tatsächlich zur Versorgungssicherheit beitragen? Welche ökologischen und ökonomischen Vorteile bieten hyperlokale Versorgungssysteme im Vergleich zu konventionellen Lieferketten?

Braun: Es gibt bereits Städte, wie zum Beispiel Havanna, in denen mehr als 50 Prozent der konsumierten Lebensmittel aus lokaler Produktion stammen, sie kann also nachweislich einen erheblichen Beitrag zur Versorgungssicherheit leisten. Die ökologischen und ökonomischen Vorteile sind aus unserer Sicht vielfältig, aber noch schwer zu bemessen. Dies liegt daran, dass sich die verschiedenen Akteure in der Lieferkette typischerweise auf die Optimierung ihrer eigenen Prozesse und Interessen konzentrieren. Beispielsweise sind die Erzeuger besonders auf maximale Erträge bedacht, während der Handel vor allem auf günstige Einkaufspreise und schnelle Lieferzeiten Wert legt. Die ganzheitlichen Vorteile urbaner Produktionssysteme, wie geringere Transportemissionen, höhere Frische der Produkte, stabilere Versorgungssicherheit und eine stärkere regionale Wirtschaft, werden in der Folge nicht ausreichend in die Entscheidungen einbezogen. Damit bleibt das volle Potenzial der urbanen Landwirtschaft ungenutzt, was die Messbarkeit erschwert.

Welche Technologien erachten Sie für die urbane Landwirtschaft als besonders zukunftsträchtig?

Schubert: Besonders zukunftsträchtig für die urbane Landwirtschaft sind Technologien, die eine präzise Steuerung und Optimierung der ihr zugrunde liegenden Anbausysteme ermöglichen. Dazu gehören in erster Linie IoT-Sensoren, die Daten über Bodenfeuchte, Nährstoffgehalt und Umwelteinflüsse liefern, sowie KI-Tools, die diese Daten auswerten und für eine effiziente Systemsteuerung nutzen.

Gibt es internationale Beispiele oder Projekte, die als Vorbild für die urbane Lebensmittelproduktion dienen könnten?

Braun: Die weitreichendsten Projekte im internationalen Raum finden sich im Nahen Osten, zum Beispiel in Saudi-Arabien und Dubai, sowie in Ostasien, zum Beispiel in Südkorea und Singapur, das bis 2030 mindestens 30 Prozent seines gesamten Lebensmittelbedarfs im Stadtgebiet produzieren will. Aber auch in Nordamerika und Europa gibt es inspirierende Beispiele. Das kanadische Unternehmen „Lufa Farms” betreibt auf den Dächern großer Gewerbegebäude in Montreal mehrere Gewächshäuser mit hydroponischen Systemen. Die gewonnenen Pflanzenprodukte sowie die zu Kompost verarbeiteten Grünabfälle werden über einen eigens eingerichteten Online-Marktplatz vermarktet. Das britische Unternehmen „Growing Underground“ nutzt wiederum ehemalige Bunkeranlagen unterhalb Londons für eine großflächige urbane Lebensmittelproduktion. Wenn ausländische Projekte als Vorbild herangezogen werden, ist jedoch zu beachten, dass nicht alles einfach kopiert werden kann. Schließlich gibt es unterschiedliche lokale Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel eine besonders hohe Bevölkerungsdichte in Singapur und besonders günstige Energiepreise im Nahen Osten, die an einzelnen Stellen andere Handlungsansätze erfordern beziehungsweise ermöglichen.

Welche nächsten Schritte planen Sie, um die Erkenntnisse der Studie in die Praxis umzusetzen und welche Partner würden Sie dabei bevorzugen?

Braun: Gemeinsam mit Partnern des Innovationsverbundes „Future District Alliance“ am Fraunhofer IAO wollen wir die Erkenntnisse der Studie in laufende Quartiersentwicklungen übertragen. Auf dem Fraunhofer-Campus in Stuttgart wurden bereits erste Demonstratoren aufgebaut und im Echtbetrieb getestet. Darüber hinaus ist ein neuer Innovationsverbund „Future Corporate Food“ für 2025 in Planung, in dessen Rahmen wir eine urbane Lebensmittelerzeugung mit führenden Unternehmen entlang der Versorgungs- und Wertschöpfungsketten der Betriebsgastronomie von größeren Unternehmensstandorten oder Campi beforschen und weiterentwickeln werden.

(vm)


Steffen Braun

Frederic Schubert

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